Die verlorenen Schafe vom Hause Israel

In Mt 10, 6 sendet Jesus seine zwölf Jünger aus mit den Worten:

"Gehet hin zu den verlorenen Schafen vom Hause Israel."

Seit über vierzig Jahren halte ich jetzt Bibelstunden. Über die verlorenen Schafe vom Hause Israel nachzudenken, habe ich bislang nicht für nötig gehalten. Jetzt auf einmal, nachdem wir Mt 9 betrachtet haben, und im Anschluß daran das Kapitel 10 durchgelesen, stellte sich uns die Frage: Müssen wir unter den verlorenen Schafen das ganze Haus Israel sehen, wie wir es bisher taten, oder sind hier eigentlich nur Einzelne gemeint?

In Mt 9 Vers 36 haben wir auch von Schafen gehört und gelesen, aber dort waren es eindeutig nicht Einzelne, sondern es war von dem ganzen Volk, der ganzen Herde die Rede. Und dieses ganze Volk, die ganze Herde jammerte Jesu, "denn sie war umhergestoßen, erschöpft, verschmachtet wie Schafe, die keinen Hirten haben."

So sah es aber nur Jesus. Die Herde selbst sah ihre Situation ganz anders. Hatten sie doch so viele gelehrte Pharisäer und Schriftgelehrte unter sich, und einen so wortgewaltigen und angesehenen Hohenpriester. Dazu fühlten sie sich als Abrahams Same und als auserwähltes Volk zu großen Dingen berufen. Wie kam es, daß Jesu sie heute so negativ beurteilen muß? Denn es war nicht immer so in ihrer Geschichte. Es gab eine Zeit, da hatten sie einen guten Hirten, ihren König David. Dieser lehrte sie, weidete sie, wie es dem Herrn wohlgefiel. Das konnte David aber nur, weil er selbst einmal ein verlorenes Schaf war, sich als Sünder erkannte, der den Tod verdient hatte.

Diese Botschaft von seinem Verlorensein brachte ihm Gottes Wort durch den Propheten Nathan. - David wußte um Buße und Vergebung. - Dieser Teil des Evangeliums ist der Schafherde Israel verloren-gegangen, und deshalb sandte zuerst Jesus seine Jünger aus, um das Volk im Sinn und Geist eines Davids wieder zu lehren (Hes 37, 24; Jer 30, 9; Hos 3, 5)

Kapitel 9 schließt mit den Worten: "Die Ernte ist groß" - so übersetzt Luther. Die Elberfelder übersetzt: "Die Ernte ist viel", auch die Konkordante in diesem Sinne: "Die Ernte ist viel" - Wenn ich übersetzen müßte, würde ich setzen: "die Ernte ist groß, sie ist viel, und sie dauert lang."

Warum jetzt "lang"? Weil die Ernte mit dieser Aussendung, oder besser mit Pfingsten, begonnen hat und erst dann ihr Ende findet und finden wird (im Blick auf Israel), wenn das ganze Volk eingeerntet ist. Eingeerntet kann aber immer nur der werden, der ein Sünder geworden ist (siehe letzte Bibelstunde), oder der würdig ist, oder der ein verlorenes Schaf wurde. Weil aber diese letzte Aussage von so grundlegend wichtiger Bedeutung für das ganze Evangelium ist, deshalb lesen wir noch aus Luk 15, 3-7 das Gleichnis vom verlorenen Schaf.

"Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat, und so er der eines verliert, der nicht lasset die 99 in der Wüste und hingehe nach den Verlorenen, bis daß er es finde; und wenn ers gefunden hat, legt ers auf seine Achseln mit Freuden. Ich sage euch, also wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut vor 99 Gerechten, die der Buße nicht bedürfen."

Wer diese sind, die der Buße (noch) nicht bedürfen, zeigt uns Jesus in den Versen jetzt von Mt 10, 14-16 (Parallelstelle ist Hes 34, 17-22). Dort lesen wir, daß die allermeisten Menschen, Häuser und Orte, zu denen die 12 Jünger gingen, vor und nach Pfingsten, mit der Botschaft: "Das Reich Gottes ist nahe zu euch gekommen!" - dieses Evangelium abgelehnt haben und die Erntearbeiter verfolgt, ja sogar getötet, wie einst ihren Meister.

Das Urteil, das Jesus über diese 99 Gerechten spricht, ist für diese gar keine frohe Botschaft.

Vers 15:

"Wahrlich, ich sage euch, dem Lande der Sodomer und Gomorrer wird es erträglicher gehen im Gericht am Tage des Gerichts, denn solcher Stadt."

Ich habe bislang noch nie gehört oder gelesen, daß irgend jemand den Versuch gemacht hat, dieses Wort auszulegen.

Manche Brüder haben die Begabung und wenden viel Zeit auf, um über einen Buchstaben oder über eine Zahl nachzusinnen und dessen Inhalt und Tiefe auszuforschen. Mir persönlich liegt das weniger. Dagegen kann mir ein Wort aus dem Munde meines Meisters wie das Vorstehende Tag und Nacht keine Ruhe lassen und ich Frage dr: Ja, Herr, welches Gericht meinst du? Neulich habe ich dann auch zu forschen, in dieser, in jener, und in weiteren Übersetzungen bis es dann auf einmal für mich völlig klar ist. "Es ist den Menschen gesetzt, zu leben, zu sterben, und dann kommt für jeden der Tag des Gerichts." Hab ich dann diese Antwort, dann brauche ich nur mein bißchen menschlichen Verstand walten zu lassen, um zu sehen, wie es damals mit den 99 Gerechten des Volkes Israel weitergegangen ist; und zwar nicht im Jenseits, sondern hier auf dieser unserer Erde. Zudem weiß doch jeder von uns, daß unser Herr, der auf dem Stuhl sitzt und thront, dafür gesorgt hat, daß sich das Erntefeld damals vom Lande Kanaan weg ausgedehnt hat über die ganze Erde; nicht zu dem Zweck, damit in dieser Ernteperiode alle erlöst werden, sondern daß auch hier wieder nur die verloreren Schafe aus den Nationen errettet werden. Was für ein Verhältnis zwischen den verlorenen Schafen und den Gerechten auf dem globalen Erntefeld besteht, darüber braucht man nicht viel zu spekulieren und nachzudenken, denn die Fakten sprechen hier auch ganz deutlich. Es sünd höchstens 1 : 99. Wenn nun Sinn und Zweck des Gerichtes der wäre, daß die 99% vernichtet werden, dann könnte man versucht sein zu sagen, daß Gott der größte Versager aller Zeiten wäre. Weil dem aber nicht so ist, und wir doch alle glauben und wissen, Gott will, daß allen Menschen geholfen werde, deshalb ist es für mich einfach wieder selbstverständlich, daß das Gericht und der Vollzug doch nur dem Zwecke dienen können, daß aus den selbstgerechten Pharisäern und Schriftgelehrten verlorene Schafe werden.

Diesem heilsgeschichtlichen Entwicklungsprozeß unterliegten alle Menschen, sie seien Juden oder Griechen.

Jeder Arbeiter im Weinberge Gottes, der solch eine Botschaft zu verkündigen hat, wird an sich selbst dann erfahren und erleben, was Jesus meint mit Mt 10, 16:

"Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe:"

Vor Jahren war ich nach einer schweren Operation vier Wochen zur Kur. In der zweiten Woche war eine evangelische Bibelstunde angekündigt. Das Thema lautete: "Buße". Diesen Begriff hat der leitende Theologe dann als Umkehr und Bekehrung ausgelegt. Am Schluß wurde jeder Anwesende aufgefordert, sich dazu zu äußern, und alle taten es im Sinne des Pfarrers. Als ich dann mit meiner Meinung kam und sagte, jeder echten Buße muß Sündenerkenntnis vorausgehen, und führte dafür als Beispiel den David an, hatte dies ein Donnerwetter zur Folge, das über mir niederging, mit dem ich nie gerechnet hätte. - "Und Sie wollen ein Christ sein? Haben Sie noch nie gehört: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst? Wie können Sie den Menschen hier, die doch alle eine Last tragen, krank sind, noch zusätzlich Sündenschuld vorwerfen, sie zusätzlich belasten? - Jesus hat doch uns erlöst davon. Wir leben doch im neuen Bund seit Golgatha usw."

Wenn ich in den nachfolgenden 14 Tagen einem dieser meiner Mitchristen in dem Hause oder gar im Aufzug begegnet bin, dann haben sie auf die Seite gesehen und selbst meinen Gruß nicht mehr erwidert.

Solch eine Predigt ist nicht im Wort und Sinn der Schriftgelehrten von damals und von heute. Denn mit solch einer harten Rede kann man die leeren Kirchenbänke nicht füllen, sondern vertreibt auch noch die wenigen Kirchenbesucher, antwortete mir kürzlich ein Theologe. Deshalb waren es damals so wenige Arbeiter, die sich senden ließen, und sind es heute fast noch weniger, die sich senden lassen.

Deshalb fordert uns Jesu auch heute auf (Mt 9, 38):

"Bittet den Herrn der Erde, daß er Arbeiter in seine Ernte sende."

Die Frohbotschaft für das verlorene Schaf

Luk. 15, 5: "Und wenn er es gefunden hat, so nimmt er es auf seine Achseln und trägt es heim."

Luk. 15,9: "Und wem sie ihn gefunden hat. so ruft sie alle Freundinnen und Nachbarn und spricht: Freuet euch mit mir, denn ich habe meinen Groschen wiedergefunden, den ich verloren habe."

Luk. 15, 22-24: "...Bringt das beste Kleid für ihn und einen Siegelring an seinen Finger (Hand) und Schuhe an seine Füße. Macht ein Fest und laßt uns essen und fröhlich sein. Denn dieser mein Sohn war verloren und ist gefunden worden."

Von der gleichen Freude, von dem gleichen Frieden und von der gleichen Erlösung redet Jesu auch in allen Himmelreichsgleichnissen, besonders auch in Mt 25. Hier gibt Jesus den verlorenen Schafen einen anderen Namen; er nennt sie Jungfrauen. Mit dieser Bezeichnung will Jesus die Charaktereigenschaft unterstreichen, die eine Jungfrau besitzt, die aber auch ein verlorener Sohn oder ein Sünder oder in verlorenes Schaf haben muß, sie sehnt sich danach, daß der Bräutigam sie umwirbt, sich mit ihr verlobt, um sie dann eines Tages zu heiraten, damit sie ein Mensch ihm werden kann. Die Frucht dieser Vereinigung ist dann ein "Obed" (Ruth 4,13-17). Ein Sohn und Erbe. Dieser höchste Tag im Leben einer Braut fällt jedoch dieser nicht ohne jede Voraussetzung in den Schoß. Ihr Herz muß erst bereitet werden. Dafür gibt es viele Stellen im Evangelium Gottes.

Auch für die erwählte, aber ungehorsame Braut Israel gilt diese Voraussetzzung. Sie kann erst wieder in den edlen Ölbaum Christus Jesus eingepfropft werden, wenn ihr Herz bereitet ist. Es ist dies nicht nur eine Grundvoraussetzung für Israel, sondern auch Grundlage und Mittelpunkt der Paulinischen Botschaft; (siehe Eph 5, 32).

Joh 3, 3: "Es sei denn, das jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen."

Joh 3, 5: "Wahrlich, wahrlich, ich sage dir es sei denn, daß jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen."

Aus Wasser und Geist muß also ein Mensch geboren werden, um in das Reich Gottes kommen zu können. Mit diesem "aus Wasser und Geist" konnte der gelehrte und angesehene Pharisäer und Lehrer in Israel nichts anfangen, so wenig wie mit dem "du mußt von neuem geboren werden".

Wie ist in diesem Stück die Situation bei unseren heutigen Schriftgelehrten? Die allermeisten werden euch antworten: seit Golgatha sind wir doch erlöst. Wer an Jesus Christus glaubt, der ist doch von neuem geboren.

Bitte orientiert euch selbst in diesem Stück, hört euch um und tätigt euch damit als Arbeiter in der Ernte. Denn ich sage euch, wer zu dieser Ruhe gebracht worden ist, wie Heb 4 es beschreibt, wer das höchste aller Wunder erlebt hat, der hat den Frieden und die Freude bleibend in sich, auch wenn er mit seiner Botschaft oft Ärgernis erregt und abgelehnt wird.

Mit meinem letzten Erlebnis will ich diese Bibelstunde schließen.

Vor einigen Tagen war ich in der Hechinger Synagoge. Ein Schriftgelehrter von der Uni Tübingen, er unterweist dort die jungen Theologen in Hebräisch, referierte über das Thema: Fordert der Gott Israels Gehorsam? Seine Antwort darauf lautete: Nein, denn das Wort "Gehorsam" gibt es in der hebräischen Sprache gar nicht. Ein lang anhaltender Applaus honorierte diese Antwort, und wir waren nur eine Handvoll, die unter Protest die Synagoge verließen.

Wenn dieser Schriftgelehrte von sich sagte, daß er schon 40 Jahre lang die Bibel studiere, dann führe ich dies deshalb an, um zu zeigen: Es kommt nicht darauf an, wie lange und wie oft jemand seine Bibel liest, sondern mit welcher Herzensgesinnung er liest oder studiert.

Desweiteren wurde uns an diesem Abend deutlich vorgelebt, wie sehr das sture Festhalten an dem Buchstaben eine geistige Entwicklung stoppen oder töten kann.

1.Kor 3, 7: "...denn der Buchstabe tötet aber der Geist macht lebendig."

Und doch, gerade deshalb ist uns, den Juden und den Nationen, der Buchstabe gegeben, daß er uns damit wir lebendig gemacht werden können durch Wiedergeburt.

Damit habe ich erkannt, daß eigentlich das ganze Evangelium Gottes in diesem kurzen Satz aus 2. Kor 3, 7 steckt.

Dem denket nach.

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